Sebastian Kiefer
Impulsreferat
Sonntag, 12.06.22
13.00 – 14.30 Uhr
Niemand glaubt mehr an die Verbindlichkeit des antiken oder frühneuzeitlichen Gattungskanons. Doch die antiken Worte Lyrik, Prosa, Drama, Tragödie werden weiter verwendet, als verstünde man noch, was mit ihnen gemeint sei und als würde das noble Alter den Begriffen Bedeutung schenken. Doch Lyrik war in der Antike (soweit die Poetik überliefert ist) keine eigene Gattung, „Prosa“ war eine spätantike Nebensache und wurde mitnichten durch das Erzählen oder Beschreiben oder gar durch 'Realitätsnähe' oder das 'Prosaische' definiert. Es ist kein literarisches, nicht einmal ein sprachbezogenes Wort: Es meinte etwa das Geradeausgehen und wurde zum literarischen Wort nur, weil man es zum Gegenbegriff der Versrede machte: Wer in Versen spricht, geht in dieser Metaphorik nicht geradeaus, sondern in abgemessenen Intervallen und Wendungen, die markiert werden von einem Sprung zur nächsten Einheit (Zeile). Auch das Drama oder Theaterstück ist heute keine Textsorte im eigentlichen Sinne mehr: Es ist nicht mehr durch sprachinterne Eigenschaften zu definieren, da jede Art Text auf die Bühne gebracht werden kann, TV-Meldungen, Romantexte, Sachtexte, Tonbandmaterial.
Alle tradierten Kriterien und Kategorien von Gattungen haben ihre Verbindlichkeit verloren, die alten Worten werden sinnentleert weiter verwendet. Sebastian Kiefer entwickelt ein Gegenmodell, das auf neue Weise literarische Gattungen als Bedingungen poetischen Schreibens verständlich werden lässt. Gattungen sind zurückführbar auf grundsätzlich verschiedene Arten, Sprache zu verarbeiten und zu repräsentieren. Sie sind der Grund, weshalb wir Gedichte (generell Versgebilde) lange Zeit wörtlich auswendig lernten und die ästhetische Erfahrung an deren Wörtlichkeit hängt, während niemand auf die Idee kommt, einen „Prosa“-Text wörtlich zu memorieren. Bevor ein dichterischer Text entsteht, muss entschieden werden, in welcher dieser Weisen dabei Sprache prozessiert wird – daher ist eine Entscheidung darüber eine der grundlegendsten, die in Dichtung auch heute noch getroffen werden können und müssen. Ein Bewusstsein der Gattungen des Schreibens ist heute grundlegender als je zuvor.