Die Festivalreihe Sprachspiel. Biennale West basiert auf der Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes des Literaten H. C. Artmann, die jener vor mittlerweile 70 Jahren im Jahr 1953 verfasste. Die 5. Ausgabe des Festivals vom 7. - 9. Juni 2024 nimmt als Motto den 4. Act zu seinem Ausgangspunkt: „Der poetische Act wird starkbewußt extemporiert und ist alles andere als eine bloße poetische Situation, die keineswegs des Dichters bedürfte. In eine solche könnte jeder Trottel geraten, ohne es aber jemals gewahr zu werden.“ Daran anknüpfend begibt es sich mit dem Titel SBW grotesk! in ein facettenreiches Assoziationsfeld, das sich dem Grotesken in Literatur und den Künsten widmet, seiner Doppelbödigkeit, seinen Ambivalenzen, den Verzerrungen, dem Uneigentlichen, dem Uneindeutigen, aber auch dem Unheimlichen, Absurden und Surrealen. Mit den Methoden der Verfremdung werden stets neuartige ästhetische Möglichkeitsräume erschlossen, indem mit Konventionsbrüchen auf die Verhältnisse der jeweiligen Zeit reagiert wird und wurde. Die Reaktivierung der Ästhetiken des Grotesken in den Künsten begleiten (bzw. initiieren) damit den kulturellen Wandel, der sich am Übergang von einer Epoche in eine neue ereignet. Sie markiert eine Zäsur, an der sich diskursive und mediale Veränderungen in Hinblick auf soziokulturelle Bezugssysteme festmachen lassen. Auch die Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes kann gewissermaßen mit ihrer surrealen, absurden und paradoxen Logik – schlechthin Alogik, entstanden im konservativen Klima der Nachkriegszeit, als ein profundes und brisantes Zeugnis der sich wandelnden Literaturästhetik gelesen werden. Denn fortan erfuhren die verwendeten literarischen Verfahren eine mannigfaltige Erweiterung, zumindest im österreichischen Kontext.
Begriffsgeschichtlich erfuhr das Wort „grotesk“, das um 1500 zunächst im Kontext der Beschreibung von in Grotten und Höhlen in Rom entdeckten ornamentalen bzw. arabesken Malereien, einige Bedeutungsverschiebungen, um schließlich zu kunsttheoretischen Zuspitzungen der Ästhetiken des Grotesken ausdifferenziert zu werden. Eine panoramatische Sichtung der epochen-, kunst- und gattungsübergreifenden Linien in der Verwendung grotesker Motive macht das 16. Jahrhundert, also die Renaissance, ferner den Übergang von Sturm und Drang zur Romantik und schließlich den Übergang zur Moderne als konstitutive Phasen aus. An jenen Unruhezonen, in denen sich alte Weltbilder und Kulturordnungen in Auflösung befanden, sich Gesellschaftsordnungen destabilisierten, kulminierten groteske Motive des Monströsen, Grauenvollen und Unheimlichen in der Literatur und den Künsten. Der Versuch, dichotomisch strukturierte Kulturordnungen und scheinbare Eindeutigkeiten zu liquidieren, zu deformieren oder aus den Angeln zu heben, fördert Sichtweisen zutage, die den Mechanismen der Verkehrung, der Verzerrung, der Vermischung oder der Übertreibung folgen. Subsumiert unter dem explizit Verbotenen, Verbannten, Ausgegrenzten, für die offizielle Ordnung Suspekten wird dem Grotesken ein minderer Wert zugeschrieben - bei gleichzeitiger heimlicher Duldung des Phänomens. Trefflichstes Beispiel ist die marginalisierte, grotesk-komische Figur des Harlekins oder Hanswursts des 18. Jahrhunderts. In improvisierten Stegreifkomödien, die auf der Straße aufgeführt wurden und die den aufklärerischen Dramen der großen Theaterhäuser diametral gegenüberstanden, wurden Obrigkeiten, Sitte und Ordnung volksbelustigend verspottet. Die Zensur dieses „Extemporierens“ und damit der Ausschluss einer grotesken Ausdrucksform nahm übrigens in Wien im Jahr 1748 einen vehementen Ausgangspunkt. Groteske Kunst wurde abgewertet und als schlecht apostrophiert. Alle pöbelhaften, unsinnigen oder kindischen Ausdrucksformen, ebenso archaisch oder exotisch Anmutendes wurde in diese Sphäre verwiesen, zudem die bis ins Altertum zurückreichenden volkstümlichen Narrenfeste und der Karneval, die mit allerdings wirkungslosen Verboten belegt waren. Die literaturwissenschaftlichen Untersuchungen Michail M. Bachtins, die uns von der Romantik ins Mittelalter zurückführen, unterstreichen sein Diktum von der sogenannten „Karnevalisierung der Literatur“. Diese bestimme die mittelalterliche Groteske als ästhetische Kategorie, indem Elemente aus der vitalen Volkskultur in die Literatur diffundierten und damit die Grundlage für eine groteske Kunst mit einem bestimmten motivischen Repertoire schufen. Diese mittelalterliche und elementare Lachkultur als Gegenkultur begriffen, bilde zudem ein gesellschaftliches Ventil, um sich in seinem allumfassenden Charakter von dualen Hierarchien und ihren Konventionen zu befreien. Diese Verbindungslinien ziehen sich bis in die Moderne, in deren künstlerischen Äußerungen das Groteske wesentlich eingeschrieben ist und sich auch gegenwärtig aktualisiert.
Zusammengefasst: Im Fokus steht die Groteske als Gattungsbegriff in der Literatur, dem Film und der Kunst bzw. das Groteske, das als Merkmal für im Wandel befindliche gesellschaftliche Verfasstheiten begriffen werden kann. Es geht dabei u.a. um Bachtins Karnevalstheorie, um Volkskultur als Gegenkultur, um das Komische, um das Lachen, um das Unheimliche. Der assoziierende Subtext für diese Festivalausgabe ist zudem von Franz Kafkas Texten (Jubiläum 2024) und weiteren tschechischen Autorinnen und Autoren inspiriert, und selbstverständlich von jenen der Wiener Gruppe, deren Mitglieder mit Schaurigem, Surrealem provozierten. Eine Linie zieht sich hier zu tschechischen Filmen der klassischen Avantgarde von Jan Švankmajer, Jiří Barta oder Jiří Trnka. Experimentelle Arbeiten von zumeist deutschsprachigen Filmemachern und Filmemacherinnen wie Susann Maria Hempel, Martin Arnold, Claudia Larcher, Bady Minck, Anna Vasof, Alfred Kaiser, Martin Arnold, Kurt Steinwendner, Claudia Märzendorfer, Katharina Copony spielen mit der Doppelbödigkeit des Grotesken und reagier(t)en damit ebenfalls auf die Verhältnisse der jeweiligen Zeit. Diese erweiterten Assoziationsfelder bilden unsere grotesken Lebenswelten ab und berühren damit auch die gegenwärtige politisch-gesellschaftliche Ebene. Mit den Untertiteln Der unendliche Krieg, Der groteske Körper und seine Figuren, Das Parasitäre, Schwarzer Humor, Die bedrohte Umwelt, Grotesque Lovers lotet das Festival mit Autorinnen und Autoren wie Brigitta Falkner, Peter Waterhouse, Franziska Füchsl, Sandra Hubinger, Rosa Pock, Thomas Raab, Gerhard Rühm, Barbi Marković, Christian Steinbacher, Pavel Novotný, Siljarosa Schletterer, Michael Fischer und Lydia Haider das Diskursfeld des Grotesken in Gegenwart und Vergangenheit aus. Der bildende Ausstellungsbeitrag von Karin Frank behandelt Motive des Körpers, des Sexuellen und die Sphäre der Gefühle, ebenso die performative Darbietung von Sabine Marte. Die musikalischen Beiträge spannen einen Bogen von klassischen Kompositionen über zeitgenössische Stücke bis hin zu Hip-Hop mit dem Wiener Duo EsRAP. Das bloße Überzeichnen, das Ausloten der Extreme, jene Wendepunkte also, die uns in Unruhe versetzen, all das ist in den Lesungen, Filmscreenings, Performances, musikalischen und künstlerischen Darbietungen bei SBW grotesk! thematisch bedeutsam. Der Festivaltrailer, dessen Sujet ein Spielzeughase aus den Archivbeständen des Nachlasses von Traudl Bayer darstellt, symbolisiert das Festivalthema in trefflicher Weise.
Ulrike Tauss
Peter Fuß, Das Groteske. Das Medium des kulturellen Wandels. Böhlau: Köln Weimar Wien 2001.
Nilola Mizerová, Die Groteske in der deutschen Literatur aus den Böhmischen Ländern 1900-1930. Arco Verlag: Wuppertal 2014.
Johanna Öttl, Körper, Kannibalen, Judenräte. Ästhetiken des Grotesken bei George Tabori und Robert Schindel. Böhlau Verlag: Wien Köln 2022.